Es ist ein eigenartiger Widerspruch: Die Spaltung der westlichen Gesellschaften, auch der deutschen, in Arm und Reich und die immer weiter auseinandergehende Schere wird breit und prominent dargestellt (vgl. Piketty 2014; Butterwegge 2020). Auch die offiziellen Daten sind eindeutig. Dem Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland galten im Jahr 2018 16,0 % der Bevölkerung in Deutschland als „armutsgefährdet“. Gemessen wurde es, wenn das „Nettoäquivalenzeinkommen […] weniger als 1.136 Euro im Monat betrug“ (Destatis et al. 2021, S. 224). Das „Armutsgefährdungsrisiko“ korrespondiert mit dem erreichten Bildungsabschluss: „9,6 % der Personen mit einem hohen Bildungsstand, 16,2 % der Personen mit einem mittleren Bildungsstand und 30,5 % der Personen mit einem niedrigen Bildungsstand (waren im Jahr 2018) armutsgefährdet“ (Ebd., S. 226).
1 Erwachsenenbildung und Armut: „ein gestörtes Verhältnis“
Die letzte Zahl müsste alle auf den Plan rufen, die in Wissenschaft und Praxis, Bildungs- und Verbandspolitik oder in der Trägerschaft und den Einrichtungen für Erwachsenenbildung tätig sind. Doch das ist die andere Seite des Widerspruchs: Armut scheint kein nennenswertes Thema der Erwachsenenbildung zu sein, in der Fachpublizistik spielt es allenfalls am Rande eine Rolle. Will man da fündig werden, muss man weit zurückgehen, beispielsweise in den Anfang des Jahres 1994. Dort hatte sich DIE. Zeitschrift für Erwachsenenbildung zum ersten und letzten Mal schwerpunktmäßig mit „Armut in der Erwachsenenbildung“ beschäftigt. Das war damals, also vor 27 Jahren, das zentrale Thema des ersten Heftes nach der „Null-Nummer“ von DIE (vgl. Nuissl 1994).
Auch die Durchsicht weiterer Jahrgänge von Fachzeitschriften erbringt keine wesentlich anderen Ergebnisse. Die Schwerpunktthemen für das Journal für politische Bildung konnten bis zum Heft 1/2005 zurückverfolgt werden. Für Heft 3/2006 hieß es „Verdrängte Herausforderungen. Ungleichheit und politische Bildung“, das war das einzige Mal, dass dieses Thema zentral dargestellt wurde. Bei der Rückschau auf die Hessischen Blätter für Volksbildung wird man erst im Heft 4/2009 fündig, es ging um „Gewinner und Verlierer in der Weiterbildung“. Die Redaktion der Außerschulischen Bildung griff das Problem im Heft 3/2008 auf, es lautete „Politikferne und bildungsbenachteiligte Menschen als Zielgruppe politischer Bildung“. Das Forum Erwachsenenbildung fragte immerhin recht zeitnah (Heft 3/2017): „Armut – arm an Mut?“
Diese kleine Bilanz lässt den Schluss zu, dass Armut nicht zu den drängenden und vordringlichen Themen der Erwachsenenbildung zählt. Verstärkt wird dieser Eindruck, wenn man in das voluminöse, 1.609 Seiten umfassende „Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung“ schaut (vgl. Tippelt & Hippel 2018). Im Sachwortregister tauchen weder die Begriffe Armut oder Bildungsferne noch Prekariat o. Ä. auf (vgl. ebd., 1589–1609).
Dabei hatte – ein weiterer Widerspruch, nämlich zu der dürftigen Zahl der Funde – Ekkehard Nuissl im Editorial von DIE, Heft 1/1994, verkündet: Armut „ist ein wichtiges Thema, ein Problem, das in die Erwachsenenbildung gehört, vor allem in die öffentlich verantwortete Erwachsenenbildung“ (Nuissl 1994, S. 3).
Das hätte ein Ausrufezeichen sein können, doch es hatte – zumindest für die Publizistik der Erwachsenenbildung – nur eine spärliche Resonanz. Aber auch in den Jahren davor wurde in der Erwachsenenbildung das Thema Armut ausgegrenzt, ja ignoriert. Im selben DIE-Heft stellte Hans Tietgens fest, dass die Erwachsenenbildung „in der Vergangenheit ein gestörtes Verhältnis zur Armut gehabt hat […]. [Es] könnte darüber nachgedacht werden, warum Armut von der Erwachsenenbildung mit einer merkwürdigen Haltung der Scham behandelt wird“ (Tietgens 1994, S. 33).
Doch warum war und ist das so? Mit einer rhetoretischen Frage gibt Gerhard Reutter im Forum Erwachsenenbildung eine Antwort: „Scheut die Erwachsenenbildung insgesamt womöglich davor, mit dieser weitreichenden Thematik allzu politisch widerständig und kapitalismuskritisch wahrgenommen zu werden?“ (Reutter 2017, S. 4)
2 Bildungsferne, Bildungsverlierer*innen, Benachteiligte und Benachteiligungsförderung
Wurde Armut, obwohl sie so offensichtlich ist, von denjenigen, die wissenschaftlich, bildungspolitisch und unmittelbar praktisch für und in der Erwachsenenbildung tätig sind, wirklich nicht intensiv wahrgenommen und aufgegriffen? Im Jahr 2002 erschien eine umfassende Veröffentlichung, herausgegeben vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung, mit dem Titel: „Benachteiligte und Bildungsferne – Empfehlungen für die Weiterbildung“ (Brüning & Kuwan 2002). Es ist eine umfangreiche Studie, die u. a. auf Datenanalysen, Literaturrecherche, der Auswertung von Programmen, Projekten und Modellvorhaben sowie Expert*innen- und Teilnehmer*inneninterviews beruht.
Der Ausgangspunkt: Es „wurde deutlich, dass benachteiligte Bevölkerungsgruppen in der Weiterbildung unterrepräsentiert sind“ (ebd., S. 5).
Neu ist, dass in der Studie die Einschätzung von „Benachteiligung“ problematisiert wurde: „Die Begriffe ‚Benachteiligte, benachteiligte Zielgruppen, Benachteiligtenförderung‘ sind eine unzulässige Verkürzung der dahinter liegenden individuellen wie gesellschaftlichen Problemlagen. Wenn der Blick nicht nur auf die Personen gerichtet ist, die für benachteiligt gehalten werden, verfestigt er die Defizitsicht. Ihre Erfahrungen, vorhandenen Kompetenzen und Potenziale sowie die Bewältigungsstrategien, um mit ihrer Lebenssituation umzugehen, bleiben außerhalb der Wahrnehmung und Anerkennung. ‚Benachteiligt‘ wird zur individuellen Zuschreibung der Gesamtperson, die zudem meist von außen, in der Regel von Institutionen, vorgenommen wird. Damit geht eine normative Zuschreibung von Defiziten einher, die zu Stereotypisierung und zu Stigmatisierung führen kann“ (ebd., S. 20).
Das war eine Distanzierung von dem Zielgruppenansatz, der in den 1970er-Jahren eine Kernidee emanzipatorischer Erwachsenenbildung war. Die Studie wandte sich davon ab, der „benachteiligten“ Zielgruppe „objektive“ Bildungsziele zuzuschreiben, stattdessen erfolgte eine Hinwendung zu den „subjektiven Faktoren“, d. h. dem „Lerninteresse, [dem] Verwertungsinteresse und [den] individuellen Werthaltungen und Einstellungen zu Weiterbildung“ (ebd., S. 23). D. h.: „Erforderlich sind auf die Lebenssituation der jeweiligen Zielgruppe ausgerichtete Angebote, die bisherige Lernerfahrungen, die Motivationslage und die spezifischen Bildungsbarrieren der potenziellen Zielgruppe berücksichtigen“ (ebd., S. 219; Hervorhebung im Original).
3 Konsequenzen für das Professionsverständnis
Für Didaktik und Methodik gaben die Forscher*innen die folgende Empfehlung: „In die Bildungsmaßnahmen sind als durchgängiges Prinzip Kompetenzansatz und Potenzialanalyse, Lebensweltbezug und Lernen-Lernen sowie Vermittlung von Kenntnissen zu neuen Medien zu integrieren. In Bildungsmaßnahmen sollen demokratische Vorgehensweisen eingeübt und Konzepte der Lebensplanung unter Berücksichtigung diskontinuierlicher Erwerbsverläufe entwickelt werden“ (ebd., S. 90).
Entsprechend diesen Prämissen sollte sich auch das Professionsverständnis der pädagogischen Mitarbeitenden in den Bildungseinrichtungen verändern: Bedeutend werden „[i]ndividuelle Förderung, Beratung, Begleitung“ (ebd., S. 222).
Damit entfällt die herkömmliche Vorstellung vom „Lehren“ und der „Lehre“: „Die Dozenten wissen, dass sie nicht mehr die Lehrenden im klassischen Sinne sind, sie verstehen sich als Lernbegleiter, die die Teilnehmenden beraten und unterstützen, damit diese ihre eigenen Lernziele und -wege finden. Diese Umorientierung erfordert ein verändertes Selbstverständnis und eine andere Rolle der Lehrenden und eine stärkere Berücksichtigung der individuellen Situation jedes Teilnehmenden, sowohl was die Lebensbiografie als auch was die augenblickliche Situation betrifft. Die Lernbegleiter haben selbst erfahren, dass es oft schwer ist, den Teilnehmenden die Verantwortung für ihr Lernen zu überlassen, sie aber gleichzeitig so zu unterstützen, dass sie die notwendigen Lernschritte machen können“ (ebd., S. 232).
4 Die Gruppe der Adressat*innen bleibt unklar
Die Studie ist zwar detailliert erarbeitet worden – von ihren zahlreichen Erkenntnissen, Empfehlungen und aufgeworfenen Fragen wurden hier nur wenige wiedergegeben –, aber sie löst nicht das bereits konstatierte Manko der „Armut in der Erwachsenenbildung“. Bezeichnend ist, dass die umfangreiche Expertise das eng gefasste Thema „Armut“ nur am äußersten Rand zum Ausdruck bringt, in einem kleinen Absatz (ebd., S. 18).
Doch sind „Bildungsferne“ und „Benachteiligte“ gleichzusetzen mit Armen? Diese Frage verweist auf unterschiedliche Erkenntniszugänge. Die „Bildungsferne“ kann kulturell begründet werden, die Benachteiligung psychologisch, die Armut aber politisch. Insofern zeigt auch die Arbeit der Gruppe der Autor*innen um Brüning und Kuwan keinen Weg, wie Erwachsenenbildung auf Armut reagieren soll.
Aber es gibt gleichwohl einen Zusammenhang. Denn mangelnde finanzielle Mittel sind ein Grund dafür, dass es „Bildungsverlierer*innen“ gibt. Darauf verweist das Heft 4/2009 der Hessischen Blätter zur Volksbildung: „Bildungsverlierer können heute Menschen sein, die voll erwerbstätig sind, von ihrem Lohn aber keine Weiterbildung mehr finanzieren können […]. Bildungsverlierer können Menschen sein, denen der Zugang zu ausreichender Bildungsinfrastruktur fehlt oder verloren zu gehen droht oder die in prekären Lebensumständen in vergleichsweise ‚reichen‘ Regionen leben und keine finanziellen Mittel zur Bildungspartizipation (mehr) haben. Bildungsverlierer können Menschen sein, die im Alter zwar Zeit, aber keine finanziellen Mittel zur Teilhabe an Bildung (mehr) haben“ (Schöll & Robak 2009, S. 303).
5 Ein Blick in die Teilnahmestatistiken
Dass es nach wie vor erhebliche Diskrepanzen in der Beteiligung an Veranstaltungen der Erwachsenen-/Weiterbildung gibt, belegt der AES-Trendbericht „Weiterbildungsverhalten in Deutschland 2018“ (Bilger & Strauß 2019): „Auch im Jahr 2018 zeigt sich, dass mit zunehmender schulischer Bildung die Quoten der Teilnahme an Weiterbildung ansteigen. Im Jahr 2018 nehmen 69 Prozent der Personen mit hohem Schulabschluss mindestens an einer non-formalen Weiterbildungsaktivität teil. Darauf folgen mit deutlichem Abstand Personen mit mittlerem Schulabschluss (51 %) und wiederum mit deutlichem Abstand Personen mit niedrigem Schulabschluss (39 %). Diese Rangfolge ist seit dem Jahr 1991 unverändert“ (ebd., S. 30 f.).
Bei der „nicht berufsbezogenen Weiterbildung“ wird die Misere noch deutlicher. An Veranstaltungen hierzu nahmen 18 % (der 5.359 Befragten) mit hohem Schulabschluss, aber nur 7 % mit einem niedrigen Abschluss teil (vgl. ebd., S. 31).
Von dem Erwerb von umfassender Bildung weitgehend ausgeschlossen und damit mehr oder weniger bildungsarm sind Menschen ohne ausreichende Deutschkenntnisse und solche mit mangelnder Lese- und Schreibkompetenz (Illiteralität, Analphabetismus). Das sind seit einigen Jahren neue, für die Institutionen auch lukrative Zielgruppen. In den Volkshochschulen wurden im Jahr 2019 61.506 Kurse zu „Deutsch als Fremdsprache“ angeboten, gezählt wurden da 894.669 Teilnehmer*innen (vgl. Huntemann et al. 2021, S. 79). Es gab 11.640 Alphabetisierungskurse mit 138.238 Belegungen (vgl. ebd., S. 81).
6 Immer noch gilt: Wissen ist Macht und Bildung macht frei
Die Begriffe „Bildungsferne“ und „Bildungsarmut“ sind in den letzten Jahren wieder stärker in die Diskussion gekommen (vgl. Bremer et al. 2015, S. 17 ff., 50; Butterwegge 2020, S. 226–237). Christoph Butterwegge sieht sie kritisch: „Problematisch ist der Begriff ‚Bildungsarmut‘, weil er […] suggeriert, dass die Armut in Bildungsdefiziten der einzelnen Person begründet liegt. Einkommens- bzw. finanzschwache Familien wird auf diese Weise das sie sozial ausgrenzende und stigmatisierende Etikett der ‚Bildungsferne‘ angeheftet. Damit vertauscht man Ursache und Wirkung, denn Armut zieht in einer zunehmend ökonomischen Imperativen gehorchenden, marktförmig bzw. kapitalistisch organisierten Gesellschaft fast zwangsläufig mangelnde bzw. mangelhafte Bildung nach sich, während eine gute (Aus-)Bildung heutzutage keineswegs mehr die Gewähr dafür bietet, außerhalb des breiten Niedrigsektors zu arbeiten“ (ebd., S. 231 f.).
Daraus könnte man folgern, dass das Thema „Armut und Erwachsenenbildung“ einen Zusammenhang herstellt, der faktisch nicht gerechtfertigt ist. Denn Erwachsenenbildung, so der weitere Schluss, verhindere keine Armut. Die Teilnahme an ihren Veranstaltungen könnte die Illusion erzeugen, dem Prekariat und der Armut zu entgehen. Die wahren Verursacher – so Butterwegge – sind die „ökonomischen Imperative“ der kapitalistischen Gesellschaft. Er spitzt zu: „Wer im Bildungssystem einer Klassengesellschaft auf ‚Chancengleichheit‘ oder ‚-gerechtigkeit‘ hofft, hängt einer Illusion an“ (ebd., S. 233).
Diese pointierten (und im Buch gut belegten) Aussagen könnten zu der Konsequenz führen, dass die Arbeit der Erwachsenenbildung für die Beseitigung von „Armut“, „Bildungsarmut“ und „Bildungsbenachteiligung“ ein trügerischer Etikettenschwindel sei. Denn die maßgeblichen Faktoren wirken nicht im Bildungssystem. Das würde jedoch dem Professionsverständnis von Erwachsenenbildner*innen widersprechen. Da ist das alte, kämpferische und optimistische Motto von Wilhelm Liebknecht nach wie vor richtungsweisend: „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ (Liebknecht 1904) oder „Bildung nach frei“ (ebd., S. 17). Auch heute noch ist aktuell und gültig, was er 1872 sagte: „Der Durst nach Wissen ist jedem Menschen angeboren, die Fähigkeiten sind gleichmäßig unter den Menschen verteilt. Nicht alle haben gleiche Anlagen, aber bei allen normalgeborenen Kindern ist die Gesamtsumme der Anlagen so ziemlich gleich, und von den Verhältnissen hängt es ab, ob und wie die Anlagen und welche Anlagen entwickelt werden. Die Keime sind in unendlicher Fülle in dem Menschengeschlecht niedergelegt; fast alle aber vertrocknen aus Mangel an den Entwicklungsbedingungen unter den heutigen Gesellschaftsverhältnissen. Es ist purer Zufall, kommt ein Talent zur Entfaltung; eine Menge günstiger Umstände müssen zusammenwirken. Die Talente des Armen haben gerade so viel Aussicht zu wachsen und aufzublühen wie Saatkorn, gestreut auf die festgestampfte, ununterbrochen von Füßen getretene, von Rädern zerfressene Landstraße“ (ebd., S. 43).
Aus meiner Sicht spricht nichts dagegen, dass diese Klarstellung von vor 150 Jahren heute noch richtig ist.
7 Aufgaben und Herausforderungen für die Profession und die Praxis
Nun aber zur Frage, wie Erwachsenenbildung heute auf die eindeutig konstatierte Armut und Bildungsarmut reagieren könnte. Ich gehe zurück auf die Studie von Brüning und Kuwan aus dem Jahr 2002, die trotz aller bereits festgestellten Mängel einige perspektivreiche Schlüsse nahelegt. Ich fasse sie zusammen:
- Armut nicht personalisieren
- dennoch den subjektiven Faktor berücksichtigen
- keine Defizitschreibung
- die Kompetenzen und Potenziale fördern
- Lebenswelt und -erfahrung einbeziehen
- Verringerung, Abbau der Zugangsbarrieren zur „Bildung“
- auf Betroffene aktiv zugehen
- Beratung und Förderung
- Lernbegleitung statt Belehrung
Das alles sind Kriterien und Kategorien, die allgemein für Erwachsenenbildung sinnvoll und derzeit unbestritten sind. Doch so einfach ist das in der Realität nicht umzusetzen. Ein aktuell erschienenes Interviewbuch ging der Frage nach, wie jüngere politische Erwachsenenbildner*innen ihre Profession verstehen und vor welchen besonderen Herausforderungen sie derzeit steht. Dabei hat sich Falk Scheidig u. a. mit der Frage nach den Zielgruppen auseinandergesetzt:
„Dem Zielgruppenbegriff haftet immer eine implizite Defizitzuschreibung an, was in der Erwachsenenbildungswissenschaft eine Problematisierung erfährt. Bedeutsam scheinen mir Angebote für jene Menschen, die die außerschulische politische Bildung wenig bis gar nicht erreicht und/oder die im Hinblick auf ihre Haltung und individuelle Voraussetzungen darin bestärkt werden müssen, informiert an der Demokratie zu partizipieren respektive überhaupt partizipieren zu können. Dies könnten zum Beispiel Personen mit niedrigem formalen Bildungsniveau und Illettrismus ebenso sein wie Personen mit Migrations- und Fluchterfahrung oder Politikdesinteressierte und -verdrossene – unabhängig von Alter und Geschlecht. Dies impliziert, Formate zu entwickeln und auszubauen, die für wenig erreichte Kreise oder solche mit entsprechenden Bedarfen und Bedürfnissen attraktiv, niedrigschwellig und anschlussfähig sind. Darin liegt zweifelsohne eine große Herausforderung, der sich Wissenschaft, Bildungspraxis und Politik noch intensiver zuwenden müssten“ (Scheidig 2021, S. 149).
Helmut Bremer hat in derselben Publikation ebenfalls die Kritik am Zielgruppenbegriff aufgegriffen, „er hätte die Tendenz, Bilder defizitärer Gruppen zu transportieren, es würden damit erst die Gruppen konstruiert, für die dann schubladenartige Konzepte und Angebote gemacht würden […]. Gleichwohl ist daran zu erinnern, dass das Zielgruppenkonzept in der Erwachsenenbildung gerade dazu helfen sollte und soll, auf makro- und mikrodidaktischer Ebene die lebensweltlichen Einbindungen und Voraussetzungen der Adressat*innen zu berücksichtigen und Teilnehmendenorientierung zu ermöglichen“ (Bremer 2021, S. 45).
Für „bildungsferne“ und arme Menschen sind die Zugangangsbarrieren zu den Häusern der Erwachsenenbildung hoch, oft zu hoch. Sie gehen nicht von selbst dort hin. Daher müssen Erwachsenenbildner*innen gruppen- und ortsspezifische Formen der „aufsuchenden Bildungsarbeit“ (Bremer et al. 2015, S. 17) entwickeln – also weg vom Schreibtisch hin in die prekären Stadtteile und Quartiere. Damit fällt die Grenze zur Sozialarbeit/Sozialpädagogik (vgl. ebd., S. 29 ff.). Dazu Bremer et al.: „Gerade im Hinblick auf ‚bildungsferne‘ Gruppen ist die Schnittmenge zwischen Bildungsarbeit und Lebenshilfe oder Sozialarbeit groß. Wenn man Zugang in die Lebenswelt dieser Zielgruppe erreichen möchte, helfen klare disziplinäre Grenzziehungen möglicherweise wenig“ (ebd., S. 30 f.). Angesichts der Individualisierung der Lebensverhältnisse und der sozialen Spaltungen in der Gesellschaft wird diese Grenze sowieso obsolet. Der tarif- und professionspolitische Pferdefuß: Das könnte bei manchen Trägern zu Überlegungen führen, ob die tariflichen Eingruppierungen ihrer pädagogischen Mitarbeiter*innen entsprechend angepasst, im Klartext: heruntergestuft, werden könnten.
8 Letztlich geht es ums Geld
Natürlich spielt bei den Themen „Armut“ und „Bildungsarmut“ Geld eine große Rolle, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen stehen die Einrichtungen der Erwachsenen-/Weiterbildung unter einem betriebswirtschaftlich bestimmten Diktat, die „Einnahmen müssen stimmen“, das „Unternehmen muss sich rechnen“, die „Leistung“ von Pädagog*innen wird am erzielten „Kostendeckungsgrad“ ihrer Arbeit bemessen (siehe Dobischat & Hufer 2014; Hufer 2021). Die Seminare werden dadurch teurer. Arme Menschen bzw. von Armut Betroffene sind damit de facto an der Teilnahme an Erwachsenenbildungsveranstaltungen ausgeschlossen. Zum anderen arbeitet das Gros der Erwachsenenbildner*innen freiberuflich und „soloselbstständig“. Die Einkünfte reichen oft gerade zum Überleben, keinesfalls zu einem guten Leben (siehe Alfänger et al. 2014). Auf einer Tagung der GEW-Fachgruppe Erwachsenenbildung meldete sich eine freiberufliche Pädagogin zu Wort: Sie sagte sinngemäß: „Ich arbeite in Alphabetisierungskursen der Erwachsenenbildung, und zwar bei mehreren Trägern. Dafür habe ich bewusst studiert. Ich machte mir keine Illusionen, dass ich damit hohe Einnahmen erzielen könnte, aber ich nahm an, dass ich einigermaßen gut leben könnte. In der Realität sieht es so aus, dass ich gerade ans Existenzminimum komme, d. h., dass ich in etwa die gleichen Einkünfte habe wir meine Kursteilnehmer*innen. Um mir wenigstens etwas leisten zu können, habe ich mich einem Tauschring angeschlossen. Ich biete Nachhilfestunden, Unterstützung im Umgang mit Behörden und Sprachunterricht an und bekomme dafür meine Haare geschnitten, meine Kleidung genäht oder werde ab und zu zum Essen eingeladen.“
Wenn man über Armut in der Erwachsenenbildung spricht, dann geht die Zielrichtung zwar nach außen, in die Gesellschaft hinein, der Blick muss aber auch ins Innenleben der Einrichtungen der Erwachsenenbildung gehen. Damit schließt sich der Kreis: Armut und Bildungsarmut abzubauen ist vor allem eine politische Aufgabe. Das spezielle Feld der Bildungspolitik ist da mitentscheidend. Erwachsenenbildner*innen, die in der Praxis stehen, müssen sich daher politisch positionieren. Das geht nicht ohne Konflikte – und dazu bedarf es Mut.
Literatur
Alfänger, J., Cywinski, R. & Elias, A. (2014). Weiterbildung im Wandel – Ein Laboratorium moderner Arbeitsformen. In R. Dobischat & K.-P. Hufer (Hrsg.), Weiterbildung im Wandel. Profession und Profil auf Profitkurs (S. 39–64). Schwalbach/Ts.: Wochenschau.
Bilger, F. & Strauß, A. (2019). Weiterbildungsverhalten in Deutschland 2018. Ergebnisse des Adult Education Survey – AES-Trendbericht. Bonn: BMBF.
Bremer, H. (2021). „Es gilt, dahin zu gehen, wo sich das Unbehagen an der Politik zeigt“. In K.-P. Hufer, T. Oeftering & J. Oppermann (Hrsg.), Positionen der politischen Bildung 3. Interviews zur außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung (S. 37–48). Schwalbach/Ts.: Wochenschau.
Bremer, H., Kleemann-Göhring, M. & Wagner, F. (2015). Weiterbildung und Weiterbildungsberatung für Bildungsferne. Ergebnisse, Erfahrungen und theoretische Einordnung aus der wissenschaftlichen Begleitung von Praxisprojekten in NRW. Bielefeld: wbv.
Brünig, G. & Kuwan, H. (2002). Benachteiligte und Bildungsferne – Empfehlungen für die Weiterbildung. Bielefeld: wbv.
Butterwegge, C. (2020). Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Weinheim: Beltz Juventa.
Destatis – Statistisches Bundesamt, WZB – Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung & BiB – Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Hrsg.) (2021). Datenreport 2021. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung.
Dobischat, R. & Hufer, K.-P. (Hrsg.) (2014). Weiterbildung im Wandel. Profession und Profil auf Profitkurs. Schwalbach/Ts.: Wochenschau.
Hufer, K.-P. (2021). „Wir müssen reden“ – Erwachsenenbildung in einer geänderten Gesellschaft – Konsequenzen für ihre Profilbildung und Wahrnehmung. In S. Schreiber-Barsch, M. Benz-Gydat, S. Schmidt-Lauff, A. Pabst, K. Petersen & K. Schmidt (Hrsg.), Erwachsenenbildung als kritische Utopie? Diskussionen um Mündigkeit, Gerechtigkeit und Verantwortung (S. 112–126). Frankfurt a. M.: Wochenschau.
Huntemann, H., Erharti, N., Lux, T. & Reichert, E. (2021). Volkshochschul-Statistik, 58. Folge, Berichtsjahr 2019. Bielefeld: wbv Publikation.
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Tippelt, R. & Hippel, A. v. (Hrsg.) (2018). Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung. 2 Bände (6., überarb. u. aktual. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.
Autor
Klaus-Peter Hufer, Dr. rer. pol. phil. habil., außerplanmäßiger Professor an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen; Arbeitsschwerpunkte: politische Bildung, Erwachsenenbildung, politische Philosophie, Bildungspolitik, Zivilcourage, Rechtsextremismus, Rechtspopulismus.
Review
Dieser Beitrag wurde nach der qualitativen Prüfung durch das Peer-Review und die Redaktionskonferenz am 12.08.2021 zur Veröffentlichung angenommen.
This article was accepted for publication following a qualitative peer review at the editorial meeting on the 12th August 2021.